KKurzgeschichte

Eine Kurzgeschichte meiner Mutter, Edith Walter

Kloster in Italien

LA NOTTE DI LORENZO

Das Kloster auf dem Hügel war ein Refugium, in das ich mich zurückzog, wenn die Welt mir wieder einmal über den Kopf gewachsen war. Schon während meines ersten Aufenthalts dort lernte ich Pater Giulio näher kennen, einen hochgewachsenen, schlanken Mann um die Fünfzig mit angegrauten welligen Haaren, der irgendwie nicht in die braune Kutter der Benediktiner passte. Er war sehr blass, und seine blauen Augen wirkten verschleiert. Nach meinem zweiten oder dritten Besuch im Kloster entstand so etwas wie eine Freundschaft zwischen Pater Giulio und mir, und wir verbrachten lange Stunden in der herrlichen Klosterbibliothek, wo er die alten Folianten restaurierte, von denen einige schon sehr unter Altersbeschwerden litten. Während er arbeitete und ich ihm ein wenig half, erzählte er mir Geschichten…

“Zum Aufschreiben”, sagte er in seinem etwas umständlichen Deutsch. „Und damit andere auch etwas davon haben. Denn nur dazu wurden sie erlebt – die Geschichten.“

Manchmal saßen wir auch noch spät abends draußen auf der bröckelnden Steinmauer. Die Luft war lau, es duftete nach Rosen und Levkojen, und in diesen Duft mischte sich der Geruch von wildem Thymian, der überall auf dem Hügel wuchs.

„Weißt du eigentlich, was heute für ein Tag – heute für eine Nacht ist?“ fragte Pater Giulio, und der Blick der blauen Augen unter dem Gestrüpp der weißen Brauen schien sich nach innen zu kehren.

„Was für ein Tag – was für eine Nacht? Der zehnte August und die Nacht des zehnten…“

„Es ist La Notte di San Lorenzo“, sagte Pater Giulio. „Die Nacht, in der Träume wahr werden… Oder auch nicht. Die Nacht, in der Millionen Sternschnuppen zur Erde rasen und so schnell verglühen, dass du nicht dazukommst, dir etwas zu wünschen…“

Genauso schnell wie eine Sternschnuppe verglühte auch die Liebe Fulvios zu Maria. Noch am Abend vorher hatte er sie geküsst und ihr gesagt, wie sehr er sie liebe. Doch schon am nächsten Tag ließ er sich verleugnen, und später sah sie ihn Hand in Hand mit Michelina, der Blonden mit den schwarzen Augen, die wie schwarze Kohlen glühten. Er strahlte, lachte, seine blauen Augen blitzten, er legte den Arm um Michelina, küsste sie…

Spät nachts, in der Nacht des Heiligen Lorenzo saßen Fluvio und Michelina am Strand und versuchten die Sternschnuppen zu zählen und aufzufangen wie das kleine Mädchen aus dem Märchen, das die Sterntaler auffing, die vom Himmel fielen. Erst als die Sonne Horizont und Meer in Morgengold tauchte, gingen sie nach Hause, Lippen und Herzen heiß von Liebe.“

„Was ist aus den beiden geworden?“ fragte ich, konnte meine Neugier nicht länger unterdrücken. „Hat Fluvio Michelina genauso schnell wieder verlassen wie Maria?“ Pater Giulio lächelte – ein bisschen traurig, wie ich fand und sagte: „Es ist ihm nichts anderes übrig geblieben. Aber warte doch ab, du wirst es erfahren.“

Er stellte meine Geduld auf eine harte Probe, denn anstatt weiter zu sprechen, begann er sich umständlich eine Pfeife zu stopfen, steckte sie an. Sie wollte nicht brennen. Er klopfte den Tabak heraus, stopfte die Pfeife von Neuem. Steckte sie an. Endlich brannte sie, und er erzählte weiter.

„Ein paar Stunden später, aber noch in der Morgenkühle, gingen die Brüder Bussardi mit ihrem Hund Rocco am Strand spazieren. Rocco, gewöhnlich ein sehr folgsamer kleiner schwarzer Teufel, raste auf einmal los und so laut die Bussardi auch nach ihm riefen, er gehorchte nicht, sondern begann wie verrückt und mit lautem Gekläff in einem kleinen Sandhügel in der Nähe zu scharren und zu graben. Und er hörte erst auf, als er einen langen roten Seidenschal ausgegraben hatte, den er den Brüdern Bussardi stolz präsentierte.

Die waren jetzt selbst neugierig geworden und fingen an, mit den Schuhspitzen den Sandhügel zu zerstören. Es dauerte nicht lange, und sie förderten ein Paar weiße Sandalen zu Tage, Sandalen, die zwar noch neu aussagen, aber schon – das sah man deutlich – getragen worden waren.

Die Brüder schauten aufs Meer hinaus, ob sie da draußen vielleicht eine Schwimmerin entdecken konnten. Doch hätte die vermutlich außer den Sandalen keinen roten Seidenschal, sondern ein Handtuch im Sand versteckt…

Zwei Tage später wurde Marias Leiche angeschwemmt, von der Flut mit Treibholz und Schlick an den Strand geworfen. Sie war an Händen und Füßen mit starkem Klebeband gefesselt, und ihr Hals war von Würgemalen verfärbt.“

„Mein Gott!“ stieß ich hervor. „Das arme Mädchen. Weiß man denn, wer es getan hat? Hat man den Mörder gefasst?“

Pater Giulio zog ein paar Mal an seiner Pfeife und vernebelte sich völlig mit Rauch. Musste husten. „Der Verdacht“, fuhr er fort, „fiel ziemlich schnell auf Fulvio. Und obwohl Michelina beteuerte, ihr Liebster sei immer bei ihr gewesen, habe sie keinen Augenblick verlassen, glaubte die Polizei ihr nicht. Und auch der Richter glaubte ihr nicht. Glaubte ihr ebenso wenig wie Fulvio, der seine Unschuld beteuerte. Immer und immer wieder. Sogar unter Tränen. Am Ende sagte Fulvios Wirtin noch aus, sie habe am Morgen nach der Nacht des Heiligen Lorenzo gehört, das Fulvio mit Maria einen schrecklichen Streit hatte und ihr bitterböse Worte nachrief, als sie fortlief. Das besiegelte Fulvios Schicksal.

Man verurteilte ihn wegen heimtückischen Mordes an Maria Amati zu zwanzig Jahren. Und damit endete die Liebesgeschichte zwischen Fulvio und Michelina. Wie du siehst, mein Freund, ist ihm nichts anderes übrig geblieben als sie zu verlassen. Sie, von der er sich nie wieder getrennt hätte…

Die Jahre vergingen, und als Fulvio nach zwanzig Jahren seine Strafe verbüßt hatte und aus dem Gefängnis entlassen wurde, hoffte er, ein ganz klein wenig an sein altes Leben anknüpfen zu können – vielleicht Michelina zu suchen, die ja wusste, dass er unschuldig war.

Aber wieder machte ihm Maria – die tote Maria – einen Strich durch die Rechnung seines Lebens. Fulvio bekam von einem Anwalt einen Brief. Einen Brief, von Maria. Sie hatte ihn beim Anwalt hinterlegt, der Fulvio diesen Brief nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis übergeben sollte.

Fulvio, mein liebster, hatte Maria geschrieben. Noch immer nenne ich dich so, obwohl meine Liebe nicht mehr Liebe ist sondern nur noch Hass. Und dieser Hass in mir will, dass du genauso leidest wie ich jetzt. So unerträglich ist mein Schmerz, dass ich nicht mehr leben möchte. Deshalb werde ich mich töten, aber auf eine Weise töten, dass man glaubt, du habest es getan. Mit meinem roten Seidenschal werde ich mich würgen, dass Male zurückbleiben. Dann werde ich hinauswaten und mir an einer Stelle im Wasser, an der ich noch stehen kann, Füße und Hände mit Klebeband fesseln. Dann werde ich mich von der Flut hinaustragen lassen und ertrinken, denn wie du weißt, kann ich nicht schwimmen…

Es stand noch viel mehr in diesem Brief, diesem tödlichen Stück Papier, das Fulvios Leben endgültig vernichtete…

Pater Giulio stand auf, klopfte seine Pfeife an der Steinmauer aus und ging zurück ins Kloster. Ließ mich mit dieser unvollendeten Geschichte allein, ohne mir zu sagen, was aus Fulvio geworden war. Ober noch lebte?

Am Abend ging ich, wie ein paar Mal in der Woche, in die Taverna Antica im Dorf, um ein Glas Wein zu trinken. Oder zwei. Pater Giulio hatte ich den ganzen Tag nicht zu sehen bekommen, was mich aber nicht wunderte, da er nicht nur in der Bibliothek, sondern auch in der Verwaltung des Klosters arbeitete. In der Taverna ging es an diesem Abend besonders lebhaft zu. Ein Bus voller Fremder war angekommen, und die Leute umlagerten die Theke.

Ich setzte mich in einen Winkel und trank still vor mich hin. Nach einer Stunde ungefähr, als es wieder ruhiger geworden war, kam Emilio, der Wirt, mit einem Glas Wein und setzte sich zu mir an den Tisch. Wir redeten über dies und das und plötzlich fiel mir ein, dass Emilio ja die Geschichte von Fulvio auch kennen musste. Vielleicht konnte er mir sagen, was aus ihm geworden war.

„Weißt du, ob er Michelina wiedergefunden hat?“ fragte ich. „Oder ist er weggegangen ist von hier? Ob er überhaupt noch lebt? Warum ist er nicht mit Marias Brief zu einem Anwalt gegangen und hat den Prozess neu aufrollen lassen? Zwanzig Jahre unschuldig im Gefängnis – man kann sich das kaum vorstellen.“

Emilio schüttelte den Kopf. „Ja, man kann es sich kaum vorstellen. Aber – tut mir leid, Amigo, ich weiß nichts.“

Ich ging ins Kloster zurück, in mein kleines Zimmer und dachte: Dann muss ich eben Geduld haben, Pater Giulio wird es mir schon sagen…“

Aber ich bekam den Pater auch am nächsten Tag nicht zu sehen. Und nicht am dritten. Wenn ich einen der anderen Patres fragte, wo Giulio denn steckte, zuckten sie nur mit den Schultern, wandten den Blick ab, murmelten etwas, das ich nicht verstand und eilten weiter.

Am vierten Tag ließ der Prior mich zu sich rufen. Er erwarte mich in der Kapelle, wurde mir ausgerichtet. Was mir auf der Seele brannte, war meine Frage nach Pater Giulio, und ich platzte damit heraus, noch ehe der Prior mir sagen konnte, warum er mich rufen ließ.

„Es tut mir leid, mein Freund“, antwortete der Prior. „Es tut mir leid, Ihnen das sagen zu müssen. Aber Pater Giulio ist heute Nacht gestorben.“

„Gestorben?“ Ich sah den großen, hageren Mann mit den asketischen Zügen beinahe dümmlich entgeistert an. „Wieso denn gestorben? Ist er verunglückt? War er denn krank?“

Der Prior nickte. „Sehr krank, mein Freund. Wir wussten schon, als er zu uns kam, dass ihm nur noch wenige Jahre vergönnt sein würden. Er hatte sich in den langen Jahren im Gefängnis eine schlimme Krankheit geholt…“