KKurzgeschichte im NOVEMBER

Ein kurzer Ausflug nach Kambodscha

Tänzer in Kambodscha

TANZ DER ENGEL

Trübes Nachmittagslicht fiel in das Zimmer. Es war ein gewöhnlicher Raum.

Schwarz-weiß-Fotografien von Tänzern in verschiedenen Posen, waren wie Schattenspiele auf kahler Wand. In der Mitte stand ein schwarzer glänzender Flügel. Steril und frei von jeder Unordnung. Im Gegensatz zu dem Schreibtisch unter dem Fenster, auf dem Noten, Bücher, Zeitungen und Schriften an abbruchreife Hochhäuser erinnerten: jederzeit einsturzgefährdet.

Inmitten dieses Chaos´ saß Pascal Ramon. Die Stille wurde sichtbar, wurde zum Rauch der vielen Zigaretten, die Pascal zornig im Aschenbecher ausdrückte. Mit jeder Zigarette starb auch eine Idee für das Kernstück des Balletthemas, das er gerade für ein Musical entwickelte. Selbst nur ein mittelmäßiger Tänzer hatte Pascal die Gabe, mit seinen Choreograpien die Menschen leichtfüßig in die Welt der Musik, des Lichts, der Mythen und Geschichten zu zaubern; die Seele durch körperlichen Ausdruck zu offenbaren. Ein Grund, warum Tänzer und Publikum ihm folgten wie die Kinder dem Rattenfänger von Hameln. Der andere Grund waren sein Charme und die tiefe Menschlichkeit, die er ausstrahlte.

Jetzt allerdings hatte er ein Problem. Er kam mit der Choreographie des Balletts einfach nicht weiter. Mit einer ungeduldigen Handbewegung fegte er die Aufzeichnungen vom Schreibtisch. Er wollte gerade aufstehen und sich eine Tasse Kaffee holen, als jemand an die Tür klopfte. Er schob sich eine widerspenstige Locke aus der Stirn und öffnete.

Wen er erwartet hatte, wusste er nicht, gehofft jedenfalls hatte er auf eine Muse, die bereit war ihn zu küssen. Seine Muse war Asiatin und hatte die zerbrechlich anmutige Haltung einer Tänzerin. Stolz und sehr aufrecht stand sie da, die dunklen Augen eindringlich auf ihn gerichtet. Sie sagte nichts, reichte ihm nur einen braunen Umschlag, ohne den Blick von Pascal abzuwenden. In diesem Moment entdeckt er etwas, das sie vor ihm hatte verbergen wollen. Ihre linke Hand war verkrüppelt und sah aus, als habe sie jemand mit einem harten Gegenstand entzweigeschlagen. Pascal war sprachlos vor Entsetzen. Jemand hatte den vollkommenen Körper dieser jungen Frau mutwillig zerstört.

Noch ehe er sein Entsetzen in Gedanken oder in Worte fassen konnte, drehte sie sich auf dem Absatz um und war verschwunden. Zurück blieben nur Tausende von Staubkörnchen in den Sonnenstrahlen, die sich jetzt wie gespreizte Finger aus Licht über den Raum legten. Offenbar hatten sich die Wolken verzogen, und er hatte es nicht bemerkt.

Die Begegnung hatte ihn betroffen gemacht, war aber auch so zauberhaft und ungewöhnlich gewesen wie die Visionen, Illusionen und Träume, mit denen das Ballett die Menschen erreichte. Nur der braune Umschlag in seiner Hand bewies Pascal, dass er sich nichts eingebildet hatte. Ungeduldig riss er ihn auf. Es waren Skizzen von Tanzfiguren, die in einer fremden Sprache beschrieben wurden.

Pascal war nicht nur hilfsbereit, er war auch sehr spontan. Deshalb stürmte er wenig später durch den Hörsaal des sprachwissenschaftlichen Instituts der Universität auf seinen Freund Professor August Rid zu, der sich in Asien wie in seinem eigenen Wohnzimmer auskannte.

„Du störst“, erklärte August Rid mit seiner tiefen, wohlklingenden Stimme, die trotz gedämpfter Lautstärke bis in die hintersten Reihen des Hörsaals drang.

„Ist mir egal“, antwortete Pascal ebenso laut. „Ich muss wissen, was das ist und zwar sofort!“ Ehe August Rid es verhindern konnte, hatte er schon die Skizzen auf dem Pult ausgebreitet. Die Hälse der Studenten wurden lang, und August Rid hielt den Atem an.

Schweigen. Spannung knisterte wie trockenes Holz im Feuer und die Spannung ging von August Rid aus. Er rückte seine Brille mit den dicken Gläsern zurecht, sagte nichts, starrte auf die Skizzen und schüttelte immer wieder langsam den Kopf. „Nun red schon“ – Pascal konnte seine Neugier kaum mehr bezähmen – „was ist es?“ „Wenn mich nicht alles täuscht, ist das eine der legendären Aufzeichnungen des Khmer-Balletts“, sagte August Rid schließlich leise. „Weißt du, was du da in den Händen hast, Junge?“ Ramon schüttelte den Kopf.

„Ein für Kambodscha und vielleicht auch für die ganze Welt ungemein wichtiges Dokument…“ August Rid sah in die Runde, sah die jungen Männer und die jungen Frauen an, von denen bisher viele die Vorlesungen über Indochina mit einem eher müden Lächeln verfolgt hatten. Und dann begann er zu sprechen. Er schilderte jenen Tag im April 1975, als in Kambodscha die Schreckensherrschaft der Roten Khmer begonnen hatte. Unzählige Menschen waren erschlagen worden, weil sie Bücher besaßen oder eine Brille trugen. Für Intellektuelle und Tradition war in Kambodscha kein Platz mehr.

Und er erzählte von dem Tanz der Engel, den die Götter einst den Menschen zum Geschenk gemacht hatten – damals, als sich das Reich der Khmer, wie die Kambodschaner genannt wurden, noch über ganz Indochina erstreckt hatte. Einem Tanz in dem viertausend Gesten die Liebe beschrieben, die Ehrfurcht, göttliche und irdische Freuden, Scham, Demut, Trauer und Leidenschaft. Gefühle, über die die Roten Khmer mit ihren Militärstiefeln hinweg getrampelt waren und die sie für immer auslöschen wollten. Angst, so sollte der neue Herrscher über Kambodscha heißen. Die Tänzerinnen des Khmer Balletts waren entweder getötet worden oder mussten unter grausamen Bedingungen in Landkommunen arbeiten, bis die biegsamen Hände, beweglichen Füße und geschmeidigen Körper für immer zerstört waren.

„Heute ist Kambodscha wieder frei“, sagte August Rid, nahm die Brille ab, fuhr sich über die Augen, setzte die Brille wieder auf, „aber die Niederschriften der Choreographien sind alle verschwunden. Die Roten Khmer haben die jahrhundertealte Tradition des Tanzes ausgelöscht. Und deshalb“ – er machte erneut eine Pause – „ist diese Schrift, mein Freund, unendlich kostbar. Offensichtlich haben die Götter dich ausgewählt, den Tanz der Engel wieder auferstehen zu lassen. Fahr nach Kambodscha…“ Mit diesen Worten beendete August Rid seine Vorlesung – die vielleicht eindrucksvollste, die er je gehalten hatte…

Während des Tages hatte sich in Phnom Phen die Hitze gestaut wie in einem Raum, dessen Fenster luftdicht verschlossen waren. Ein Strom aus Mopeds und Fahrradrikschas ergoss sich über die von Eukalyptus- und Kapokbäumen gesäumten Straßen. Gärten mit saftig grünem Zitronengras und bunt dekorierte Kaffeestuben. Fliegende Händler hielten ihre exotischen Delikatessen feil – Lotusfrüchte, Hühner- und Enteneier, gebratene Spatzen und Zuckerpalmenfleisch.

Pascal Ramon hatte den Ratschlag seines Freundes befolgt und war schon ein paar Tage später nach Phnom Penh, die Hauptstadt von Kambodscha geflogen. Vor seiner Abreise hatte er noch einiges in Erfahrungen bringen können. Zum Beispiel wusste er jetzt, dass das Khmer Ballett sein Training wieder aufgenommen hatte. Nicht wie damals im Königspalast, sondern in einer einfachen, nach allen Seiten offenen Trainingshalle.

Die Trainingshalle lag am Mekong. Wolken spiegelten sich in seinem fast durchsichtigem Wasser. Ein Gong dröhnte und Bambusxylophone warfen ihre eigenartigen Klangmelodien in den Staub. Hühner gackerten, Frauen palaverten während sie im Mekong ihre Wäsche wuschen. Die Szenerie wechselte ständig, und Pascal konnte sich nicht sattsehen und nicht satthören, doch dann wurde es ganz still in ihm. Denn in diesem Moment sah er sie…

Die Tänzerin war wie eine Blüte, die ihre Schönheit nur zögernd der Welt öffnete. Ihre Bewegungen waren ebenso langsam wie das Schweißperlchen, die ihr über den Hals lief und in der paspelierten Korsage versickerte. Im Zeitlupentempo schraubte sie sich um die eigene Achse, spreizte die Hände wie Schwalbenschwingen und rollte dabei die Füße Millimeter um Millimeter auf dem gekachelten Steinfußboden ab. Ihre Augen aber gingen in die Ferne.

„Das ist Okphala.“ Erst jetzt bemerkte Pascal die ältere Frau, die wohl schon eine ganze Weile neben ihm gestanden haben musste. Sie sprach Französisch – eine Sprache, die viele Khmer beherrschten. „Sie ist eine Apsara, ein Engel. Nur die schönsten und begabtesten Mädchen dürfen den Tanz der Engel tanzen. Sie ist zwar noch nicht so geschmeidig wie es die Tradition verlangt, aber sie hat dieselbe überirdische Grazie wie Prinzessin Bhopatevi, die Lieblingstochter von Prinz Sihanouk.“ „Aber wieso tanzt sie? Ich dachte, es gebe keine Aufzeichnungen mehr über das Ballett?“

„Die gibt es auch nicht“, antwortete die Frau mit einem unergründlichen Lächeln. „Ich in Em Phiey, und eine der wenigen Lehrerinnen, die die Roten Khmer überlebt haben. Wir versuchen die Schrittfolge aus dem Gedächtnis nachzuvollziehen.“ Während sie sprach, ließ Pascal Okphala nicht aus den Augen. Sie war schön, hatte große Augen und eine für Asiatinnen ungewöhnlich schmale Nase. Die Lippen waren voll und zärtlich. Pascal war jetzt fündunddreißig Jahre alt, und für die Liebe hatte er nie Zeit gehabt. Seine Leidenschaft hatte nicht den Frauen, sondern dem Ballett gegolten – bis zu diesem Augenblick. Er spürte, dass er in Phnom Penh mehr gefunden hatte, als das Kernstück auf dem er seine Choreographie aufbauen wollte – er war der Liebe begegnet.

„Ist es möglich Okphala kennenzulernen?“ wandte er sich aufgeregt an Em Phiey. Offenbar war das Training zu Ende, denn Okphala setzte sich jetzt zu den anderen Mädchen auf den Boden, die Beine seitlich abgewinkelt, damit die nackten Fußsohlen nicht verbotenerweise auf den Gast zeigten. Der Gast war er, Pascal. Okphala warf ihm einen Blick zu, errötete und wandte sich hastig wieder ab. „Warum?“

Er erklärte der alten Lehrerin, dass er Choreopgraph und ihm die Niederschrift des „Tanzes der Engel“ zugespielt worden war. „Ich brauche eine begabte Tänzerin, mit der ich den Tanz in seiner ursprünglichen Form erarbeiten kann.“ Schweigend betrachtete Em Phiey die Skizzen, und ihre Augen fingen an zu leuchten. „Ein Wunder“, sagte sie schließlich leise. „Es ist ein Wunder. Die Götter haben uns nicht vergessen – ich werde Ihnen Okphala vorstellen…“

Mehrere Wochen schon hatten Em Phiey, Okphala und er gemeinsam die Niederschrift erarbeitet – tage- und ganze Nächte lange -, doch von Liebe war nie gesprochen worden. Sobald Pascal Okphala auch nur ansah, wurde er stumm, flüchtete er sich in die Disziplin der Choreographie.

Wenn Okphala in das schimmernde weiße Apsaragewand eingenäht und unzählige Blüten in ihr lackschwarzes Haar geflochten wurden, war sie weit von ihm entfernt. Sobald sie jedoch vor den oft betrunkenen Touristen zu tanzen begann, klammerte sie sich mit den Augen an ihn, als sei er der einzige, der sich vor den gierigen, den unwissenden Blicken schützen konnte. „Warum tust du das, Okphala?“ fragte er sie schließlich auf ihrem ersten gemeinsamen Ausflug, der sie zum Tempel von Ankhor Vat führte. Es war der Ort, an dem die buddhistischen Mönche für die Seelen der Mordopfer der Roten Khmer beteten, und es war der Ort, an dem die Apsaras wie durch ein Wunder unangetastet geblieben waren. Die in Stein gemeißelten Tänzerinnen, die in der Khmer-Mythologie als Botschafterinnen der Götter zu den Menschen herabsteigen und für sie tanzen. Okphala zeigte auf die Statuen aus Sandstein. „Sie lächeln noch immer, nicht wahr, Pascal? Niemand hat ihnen ihr Lächeln nehmen können, nicht einmal die Roten Khmer.“ Sie hob den Kopf und sah ihn ernst an. „Mein Lächeln haben sie in dem Augenblick zerstört, als sie meine Großmutter in den Wald getrieben haben – sie war Tänzerin wie ich. Sie wollte nichts als tanzen, und jetzt ist sie tot.“

„Und warum tanzt du, Okphala?“

„Durch den Tanz lebt meine Großmutter in mir weiter und meine Mutter, sie leben alle in mir weiter, die Tänzerinnen des Khmer-Balletts. Die Roten Khmer haben getötet, sie haben unsere Traditionen mit Füßen getreten, aber eins ist ihnen nicht gelungen – den Tanz auszulöschen.“ Okphala sah wunderschön aus. Nur der Mund zerschnitt fast schmerzhaft die mädchenhafte Anmut ihres Gesichts. Jetzt da sie schwieg, waren ihre Lippen fast abweisend zusammengepresst. „Und deshalb tanzt du für die Touristen?“

Sie nickte. „Ja, auch sie sollen die Botschaften der Götter in die Welt tragen. Sie sollen den Menschen erzählen, dass wir, das Volk der Khmer, wie Bambus sind. Der Sturm kann uns zwar beugen aber nicht brechen.“ Wieder fand Pascal keine Worte, hob stattdessen ganz sanft ihr Kinn, zog sie an sich und küsste sie, küsste sie im Schatten des Tempels von Ankhor Vat, küsste sie unter den Statuen der Apsaras. Und aus der Fernde drangen durch die leeren Fensterhöhlen die Gebete der Mönche zu ihnen.

Okphala ließ es geschehen. Mehr noch – ihre Augen waren voller Liebe.

„Du hast recht“, sagte er schließlich. „Die Welt muss erfahren, dass die Apsaras nie aufgehört haben zu lächeln. Ich werde mein neues Ballett den Engeln von Kambodscha widmen, den toten Tänzerinnen, den Tränen und dem Schmerz. Der Tanz der Engel wird das Kernstück des Balletts, und du wirst es tanzen. Wirst du das tun, Okphala?“

Sie nickte. „Ja, Pascal, ich werde tanzen für dich, für meine Großmutter, meine Mutter und für die ganze Welt.“ Hand in Hand verließen sie die Schatten der Tempelmauern, verließen sie das Lächeln der Apsaras. Einmal nur blickte Pascal zurück. Er musste an die junge Frau mit der verkrüppelten Hand denken, die ihm die Partitur gebracht hatte. Dem Glauben der Khmer nach waren die Apsaras von den Göttern ausgeschickt worden, um für die Menschen zu tanzen. War sie eine Apsara, ein Engel, dem die Roten Khmer die Flügel gebrochen hatten? War sie ausgeschickt worden, damit Kambodscha durch ihn, einen Teil seiner Traditionen zurückbekam? Er würde es nie erfahren. Und dennoch – er hat ihr so viel zu verdanken. „Den Tanz der Engel“, und die Liebe seines Lebens.